Marie und der Cowboy

Maries Geschichte

Marie und der Cowboy

„Der Cowboy Jim aus Texas… Jippijeh, Jippi Joh, Jippijeh, Jeh Jeh Jeh Joh….!!“ – Eine glockenhelle Stimme , wunderschöne dunkle Augen und Zöpfe, die im Takt zum Lied lustig wippen… „Jippijeh, Jeh Jeh Jeh Joh….!!“ Die Sängerin, die ich hier beobachte, ist Marie, gerade noch 7 Jahre alt und ein rundherum fröhliches Mädchen, das in die erste Klasse einer Regelschule geht. Jetzt kommt die Stelle im Cowboy-Lied in der ein Floh den Cowboy Jim in den Po beißt. Ich muss schmunzeln, aber Marie singt das Lied mit den beinahe unendlichen Strophen unbeirrt, ohne mit der Wimper zu zucken und munter weiter …


Jetzt sehe ich auch Maries Eltern: Magdalena und Thomas. Voller Stolz hören sie Maries fröhliches Lied. Ja, stolz und glücklich dürfen sie wirklich sein. Denn dass Marie heute so aufgeweckt ist, ist absolut nicht selbstverständlich und nicht zuletzt ihrem unermüdlichen Kampfgeist zu verdanken! Ihre Geschichte ist Tragik und Glück zugleich: Ungefähr einen Monat vor dem errechneten Geburtstermin wird Magdalena unruhig. Dafür gibt es eigentlich zunächst gar keinen Grund. Magda und Thomas waren schon sechs Jahre verheiratet, als Marie sich ankündigte. Die Schwangerschaft verlief vollkommen unauffällig und die werdenden Eltern fühlen sich fabelhaft und freuen sich unbändig auf ihr erstes Kind. „Warum wurdest du plötzlich so unruhig, Magda?“, frage ich. „Ich hatte das Kind den ganzen Tag nicht gespürt, was sehr ungewöhnlich war“, sagt Magdalena nachdenklich. „Aber im Krankenhaus sagte man uns, es sei alles in Ordnung!“ Dennoch soll die werdende Mama lieber eine Nacht im Krankenhaus bleiben. Nach 12 Stunden am Wehen-Schreiber die erschreckende Nachricht: „Wir müssen das Kind holen, weil die Herztöne immer wieder abfallen!“

Ein Schock für die werdenden Eltern. Aber für Überlegungen bleibt keine Zeit. Magda wird in den OP-Saal geschoben und Marie erblickt per Kaiserschnitt das Licht der Welt. In Handtücher gewickelt sieht die frisch gebackene Mutter zum ersten Mal ihr Kind. Dann verschwindet die Ärztin mit dem kleinen Bündel, während Magda versorgt wird. Magda erinnert sich: „Kurze Zeit später kamen Ärzte und teilten uns mit, dass Marie die linke Hand sowie ein Teil des Unterarms fehlt. Das war eine so unglaubliche Schreckensbotschaft, die ich in diesem Moment kaum verkraften konnte! Besonders, weil mir während der gesamten Schwangerschaft immer wieder gesagt wurde, alles sei in bester Ordnung!“ Marie, die nur 2.050 Gramm wiegt, hat keine Kraft zu saugen und muss per Sonde ernährt werden. Die ersten vier Wochen ihres Lebens verbringt sie auf einer Kinderintensiv-Station in einem Wärmebettchen. Aber dann darf die kleine Familie nach Hause. Vater Thomas: „Wir haben uns schnell mit der Situation angefreundet. Marie konnte gestillt werden, sie nahm zu und gewann an Kraft!“ Er denkt kurz nach und erinnert sich: „Damals sagte Magda, dass nichts Schlimmeres kommen könnte als das, was wir drei erlebt haben!“. Magdalena: „Aber es kam schlimmer. Als Marie acht Monate alt war, mussten wir sie mit einem Fieberkrampf ins Krankenhaus bringen!“


Aber auch im Krankenhaus ließen die Krämpfe nicht nach. Die niederschmetternde Diagnose: Marie hat eine Epilepsie, die durch einen Hirninfarkt vor, während oder nach der Geburt hervorgerufen wurde.
Ich frage Magda und Thomas, was sie damals empfunden haben. Man merkt, dass auch heute  der Schock noch ganz tief sitzt, als Magda antwortet: „Als man sagte, dass wir uns darauf einstellen sollen, ein schwer behindertes Kind zu haben, das weder laufen noch sprechen können wird, brach für uns eine Welt zusammen.“ Da man in der Klinik die schweren Anfälle von Marie nicht unter Kontrolle bringen konnten, verlangten die jungen Eltern eine Verlegung in ein nahegelegenes Krankenhaus mit Epilepsie-Zentrum. „Marie hatte etwa zehn Anfälle innerhalb von 24 Stunden. Das war nicht zu ertragen!“
Dort in der Klinik stellte man fest, dass Marie unter einer seltenen Form der Epilepsie leidet: Dem so genannten West Syndrom, das nur bei Babys vorkommt, und das nur sehr schwer oder gar nicht zu behandeln ist. „Die Wahl, vor die man uns stellte, war wie die Entscheidung zwischen Pest oder Cholera,“ erinnert sich Thomas. „Die einzigen zwei Behandlungs-Möglichkeiten, die vielleicht helfen können, sind Medikamente. Das eine beeinträchtigt in erheblichem Maße das Sehvermögen, das andere, ein hochdosiertes Cortison, schädigt Nieren und Herz.“


Welche Entscheidung sie getroffen haben, möchte ich wissen, denn gerade höre ich sehr erleichtert, dass Marie wieder fröhlich singt; dieses mal ein Lied von Rolf Zuckowsky ... Magda lächelt: „Wir sind damals dem Rat eines Arztes gefolgt und haben uns für die Cortison-Therapie entschieden.“ – „Ja, nach zwei Wochen Behandlung hörten die Anfälle endlich auf“, ergänzt Thomas. „Man musste jedoch die Therapie dann langsam wieder ausschleichen, was zum Glück aber gut gelang.“ Die Eltern sind froh und glücklich. Dennoch hatte die Therapie erhebliche Spuren hinterlassen. Das ehemals zarte Baby ist am gesamten Körper aufgebläht, der Herzmuskel verdickt und Marie hat alles verlernt, was sie in den acht Monaten ihres jungen Lebens gelernt hat. Als die kleine Familie nach zwei Monaten wieder zu Hause ist, ist die 10 Monate alte Marie wieder auf dem Entwicklungsstand eines Neugeborenen. Aber Magdalena und Thomas geben alles, was Eltern möglich ist: dreimal täglich Physiotherapie nach Bobath und Vojta. Zunächst schreit Marie fürchterlich. „Da war es nicht immer einfach weiterzumachen! Aber wir wollten, dass unsere Tochter vorankommt. Und das tat sie auch!“


Wenn man Marie nun singen hört, glaubt man das ohne geringste Zweifel! Innerhalb eines Jahres holt Marie alles nach. Sprechen beginnt sie genau so früh wie andere Kinder, die nicht dieses Krankheitsgeschehen durchgemacht haben. Mit zwei Jahren kann sie frei laufen und der verdickte Herzmuskel hat sich zurückgebildet, ebenso kann sie das Gewicht, das sie durch die medikamentöse Therapie zugenommen hatte, vollkommen abbauen. Endlich kommt die Familie zur Ruhe und Marie kann mit zwei Jahren ihre erste Armprothese bekommen. „Die erste Prothese war eine mit einer so genannten „Patsch-Hand“, “ erinnert sich Magda, „Diese Hand ist eine passive Prothese, mit der sich Kinder an die prothetische Versorgung gewöhnen können.“ Ja, und auch das gelingt bei Marie ohne Probleme. Bereits in Alter von drei Jahren erhält sie eine hochwertige Armprothese, die sie mühelos in ihr Körperbild integriert. Nur, wenn die Prothese aufgrund von Maries Wachstum zu klein wird, trägt sie sie nicht gern, weil sie drückt. Dann muss „Lilli“, wie Marie ihre Prothese liebevoll nennt, schnell neu angepasst werden. Bis 2015 läuft das Leben der kleinen Familie ohne Komplikationen – ohne Medikamente und Anfälle. Leider hat Marie im Jahr 2015 erneut einen epileptischen Anfall. Seither ist sie auf normale Anti-Epileptika eingestellt, die die Situation schnell unter Kontrolle bringen. Das Leben verläuft seither in normalen Bahnen.


Ich sehe Marie, die nun aufgehört hat zu singen und fröhlich und zufrieden über eine Butterblumen-Wiese springt. Ihre Prothese trägt sie dabei vollkommen selbstverständlich. In der Schule mag sie am liebsten Englisch. Wenn man die Geschichte von Marie kennt, ist man gleichermaßen begeistert, gerührt und glücklich, wenn sie erzählt, dass sie jede Woche zum Reiten und zum Schwimmen geht.
Ein starkes kleines Mädchen, das nicht aufgibt und sich jeder Hürde stellt: Zur Zeit fragt sich Marie: „Wie schaffe ich es nur, einen Reißverschluss zuzumachen und eine Schleife zu binden?“ Wie ich Marie kenne, wird sie es schaffen! Ganz, ganz bald – ganz, ganz sicher!

Andrea Vogt
Andrea Vogt
Ann-Sophie

Ann-Sophie

Ich stehe einem jungen Mädchen gegenüber: sie ist groß, aufrecht, gut aussehend – mit offenem Blick schaut sie in die Welt. Keck hängt ein dicker Jeans-Knoten an ihrem einen Hosenbein – dort, wo das Bein fehlt …

Ann-Sophies Geschichte